Die Entwicklung

Das liberale Judentum knüpft nach einer Zeit des Verharrens an die ursprüngliche Flexibilität und Dynamik des Judentums an. Bis ins Mittelalter hinein hat sich das Judentum als solches fortlaufend verändert. Es hat die sozialen Bedingungen verschiedener Epochen berücksichtigt und auf zeitgenössische Lebensstile und Einstellungen reagiert, auch wenn es sie nicht zwangsläufig nachahmte. Dies zeigt sich vor allem in der talmudischen Zeit (1. bis 7. Jahrhundert), in der Prinzipien von jüdischem Recht, Ethik und Lebensführung lebhaft diskutiert und kritisch geprüft wurden. Die Ergebnisse werden zusammenfassend als „Halacha“ – der Weg – bezeichnet. Bräuche, die nicht mehr durchführbar waren, wurden durch die besondere Lesart der Rabbinen erfolgreich abgeschafft oder durch einen Interpretationsprozess, der dem Wortsinn des Toratextes neue Bedeutung verlieh, verändert. So wurde die Todesstrafe, die in der biblischen Literatur üblich ist, schließlich an so viele Bedingungen geknüpft, dass es unmöglich wurde, sie zu vollstrecken. In ähnlicher Weise löste man den Satz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Exodus 21,24) von jeglicher körperlicher Vergeltung ab und bezog ihn auf einen rein finanziellen Ausgleich.

Der lebendige Erneuerungsprozess, der für das Judentum aller Generationen so charakte- ristisch war, litt seit dem 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung unter dem Fehlen einer zentralen rabbinischen Autorität, die die Macht gehabt hätte, größere Änderungen im jüdischen Gesetz durchzusetzen. In der folgenden Zeit bewirkten einige führende Gelehrte kleinere Änderungen, doch sie zögerten, Regelungen der Rabbinen früherer Jahrhunderte aufzuheben. Ende des 16. Jahrhunderts erschien das Buch „Schulchan Aruch“, eine genaue Kodifizierung des praktischen, jüdischen Rechts, und bewirkte, dass der Prozess kontinuier- licher Erneuerung verkümmerte. Seine Veröffentlichung fiel mit der raschen Entwicklung des hebräischen Buchdrucks zusammen, der eine weite Verbreitung dieses Kodex sowohl im sefardischen (spanisch-orientalischen) wie im aschkenasischen (west- und osteuropäischen) Judentum ermöglichte. Die Übereinstimmung mit dem „Schulchan Aruch“ wurde zum Kriterium dafür, was als autoritatives Judentum zu gelten hat. Bis heute ist dieses Buch weithin Grundlage orthodox-jüdischer Lebensführung. Die Folge ist eine immer größer werdende Kluft zwischen dem jüdischen Gesetz und dem modernen Alltagsleben.

So hält die orthodoxe Halacha in einem Zeitalter, in dem es selbstverständlich weibliche Staatsoberhäupter gibt, daran fest, dass Frauen nicht als Zeuginnen geeignet sind (Schewuot 4,1), weder das Rabbinat ausüben noch Kantorinnen sein können – und, weil einstmals das Feueranzünden als schwere Mühe am Schabbat verboten war, gilt heute das gleiche für die Betätigung von Lichtschaltern.

Diese Beispiele erklären, warum so viele Jüdinnen und Juden ganz im Sinne der ursprünglichen Dynamik der jüdischen Lehre seit dem Zeitalter der Emanzipation darum bemüht sind, eine moderne Halacha, d.h. eine moderne rituelle Praxis zu entwickeln und damit dem jüdischen Auftrag folgen, sich in jeder Generation die Tora neu zu erschließen. Liberale Juden glauben an den Wert der Tradition ebenso wie an die Notwendigkeit von Änderungen. Aus diesem Grund entstand das liberale Judentum im 19. Jahrhundert, als Juden in Deutschland zum ersten Mal ihren Glauben frei von Einschränkungen durch die Obrigkeit zum Ausdruck bringen konnten.

Das liberale Judentum versteht sich als Erbe der fast 4000 Jahre alten jüdischen Tradition und religiösen Erfahrung. Es strebt danach, sie zu erhalten und zu entwickeln, also die Er- kenntnisse aus der Vergangenheit mit der Wirklichkeit unserer Gegenwart zu verbinden. Das Judentum hat nicht nur eine reiche Geschichte, sondern ist eine Herausforderung für heutige Jüdinnen und Juden, diese Tradition in moderne Bezüge zu stellen. Andere Ausdrucksformen des Judentums stehen gleichberechtigt daneben, denn sie verfolgen dasselbe Ziel, wenngleich auf andere Art und Weise.