Auffassung
Die Dynamik und Flexibilität des liberalen Judentums ist begründet in der Auffassung der Offenbarung. Der Ewige ist nicht im fundamentalistischen Sinn Autor der Tora. Diese ist vielmehr „ein Buch von Menschen über menschliche Verstehensweisen von Gott und über Erfahrungen und Begegnungen mit Gott“ (R. Gunther Plaut). Mit aller gebotenen Vorsicht und ohne absolute Gewissheit erlangen zu können, versuchen liberale Juden im Text der Tora zwischen Heiligem, zeitlos Gültigem und historisch bedingten Verständnissen und Missverständnissen zu unterscheiden.
Nicht alle rechtlichen und rituellen Praktiken und Gebote werden, auch wenn sie in der Tora stehen, als heilig und verbindlich angesehen. Freilich hat jedes System Nachteile und die Auswahl birgt die Gefahr der Subjektivität, der nur durch sorgfältige, historisch informierte Interpretation der Überlieferung und durch Anknüpfung an die Tradition begegnet werden kann. Die Offenheit des liberalen Judentums in der Auseinandersetzung mit der Tradition kann zu Unterschieden bei individuellen religiösen Handlungsweisen und zwischen Gemeinden führen. Wenn dies jedoch innerhalb einer anerkannten jüdischen Struktur geschieht, so gibt es keinen Grund, warum der religiöse Lebensstil innerhalb dieses Rahmens für alle und jeden identisch sein sollte. Es gibt keinen liberalen Kodex wie den orthodoxen „Schulchan Aruch“, der genau befolgt werden muss, sondern ein fließendes Verhältnis von persönlicher Freiheit und gemeindlicher Identität.
Jeder Jude hat das Recht auf eigenen Ausdruck seiner Religiosität, aber auch die Pflicht, den Grundüberzeugungen und der rituellen Praxis zu folgen, welche das Volk Israel ausmachen. In Fragen von gemeinschaftlichem Interesse, etwa Statusfragen (wer ist Jude?) und Gottesdienstformen, ist man auf Landesebene oder im Rahmen eines kulturellen Gefüges in der Regel um Konsens bemüht, so auch innerhalb der Union progressiver Juden in Deutschland. Dies kommt einer Annäherung der Bräuche in allen liberalen Gemeinden eines Landes zugute, lässt aber immer Ausnahmen und Abänderungen zu. In persönlichen Dingen, wie der individuellen Beachtung der Kaschrut oder des Schabbats, geben die Rabbiner Anleitungen, doch die eigentliche Gewissensentscheidung liegt beim Einzelnen selbst – nicht deshalb, weil es unmöglich wäre, das Einhalten zu erzwingen, sondern weil letztlich jeder selbst religiöse Verantwortung für sich trägt. Es ist die Pflicht des Einzelnen, sein Wissen um die jüdische Tradition stetig zu erweitern und die Rituale des Alltags und der Feiertage in persönlicher Integrität und in Verbundenheit mit der Gemeinschaft zu praktizieren.
Das Miteinander in der Synagogengemeinde ermöglicht es, traditionelle Lebensformen umzusetzen, die dem Einzelnen in seiner individuellen Observanz vielleicht nicht einsichtig oder vertraut sind. Liberale Gemeinden sind darum bemüht, ohne Überstülpen einer verbindlichen Gesetzlichkeit allen Mitgliedern entsprechend seiner oder ihrer Persönlichkeit und religiösen Bedürfnisse ein Hineinwachsen in die jüdische Lebensform zu ermöglichen.